Beim Hundetraining werden oft Probleme in Bezug auf das Verhalten des Hundes zu situativ angegangen. Der Hund wird dann „therapiert“, als wäre er eine soziale Insel. Wenn er z.B. mit Hundebegegnungen unterwegs nicht gut zurechtkommt, wird sein Verhalten modifiziert. Mitunter wird er sogar mit Maulkorb und auf sich alleine gestellt einer Hundegruppe ausgesetzt, damit er ein anderes Verhalten erlernen soll. Der Besitzer bleibt hierbei zu oft außen vor, allein der Hund muss dabei als Einziger sein Verhalten ändern. Diese Form des Hundetrainings beeinträchtigt die Wahrnehmung des Hundes, seinen Besitzer als Bezugsperson zu sehen, zu dem er eine sichere Bindung aufbauen kann. Hunde leben aber von Natur aus in einem Familienverband. Die Verbundenheit mit den anderen Mitgliedern der eigenen Familiengruppe gibt jedem Individuum der Familie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Der Familienverband der Kaniden kennzeichnet sich wie bei uns Menschen durch ein parentales System aus. Dies bedeutet, dass ein Elternpaar mit seinem Nachwuchs zusammenlebt. Die Eltern sind für die Sicherheit ihres Nachwuchses zuständig. Zudem lernen die Welpen freiwillig alle lebenspraktischen Fertigkeiten hauptsächlich über das Beobachten des Vorbildverhaltens der Elterntiere, welches dann nachgeahmt wird. So sind die Elterntiere für die Welpen auf völlig natürliche Weise absolut wichtige Bezugspersonen. Der Welpe braucht seine Eltern, denn mit ihrer Lebenserfahrung haben die Elterntiere Antworten auf alle Lebensfragen und stillen die Bedürfnisse des Welpen. Die Elterntiere sind sich der Verantwortung für ihren Nachwuchs bewusst. Nur so entwickelt sich eine sichere Bindung zwischen Welpen und Elterntieren.
Was ist der Unterschied zwischen Beziehung und Bindung?
Eine Beziehung hat der Hund zu jeder Person, die er kennt und mit der er kommuniziert. Bindung setzt Beziehung voraus und wird zu den Bezugspersonen aufgebaut, die für die Persönlichkeitsentwicklung des Hundes von entscheidender Bedeutung sind. Es handelt sich um eine emotional sehr bedeutende Verbindung, die lebenslang bestehen bleibt. Die Beziehungsform, die der Hund zu unterschiedlichen Personen hat, ist in der Regel genau so unterschiedlich wie diese Personen sind, weil sie davon abhängig ist, welche Bedeutung die Person für den Hund hat. Die meisten Menschen möchten für ihren Hund eine hohe Bedeutung haben. Diese Bedeutung hat man nicht automatisch dadurch, dass man der Besitzer des Hundes ist. Bedeutsamkeit muss man sich verdienen. Wie für Kinder die Eltern (hoffentlich) in der Regel von großer Bedeutung sind, sollte der Besitzer auch für seinen Hund die Elterntiere ersetzen. Diese Elternrolle kann für den Hund nur bedeutsam sein, wenn der Mensch einerseits die Sicherheit des Hundes gewährleistet, und anderseits dem Hund durch Vorbildverhalten und aktives Lernen für den Hund sinnhafte Handlungen beibringt, die für den Hund so etwas wie lebenspraktische Fertigkeiten darstellen. Es ist wünschenswert, dass der Hund eine andere Beziehung zum Nachbar hat, als zum eigenen Besitzer. Auch die Beziehung zu Kindern in der Familie ist hoffentlich eine andere, denn diese können für den Hund, abhängig vom Entwicklungsstand des Kindes, keine so adäquate Elternrolle einnehmen. Zu Elterntieren wird eine Bindung aufgebaut. Sie sind die für die eigene Persönlichkeitsentwicklung wichtigsten Bezugspersonen. Oft aber hat der Besitzer oder die Besitzerin aus Sicht des Hundes eine andere Rolle in seinemSozialkonstrukt. Es gibt nicht wenige Hunde, die ihren Besitzer, vor allem aber oft die Besitzerin, als Partnerersatz auf sexueller Ebene ansehen. Natürlich ist auch dann der Mensch als Sozialpartner sehr wichtig, aber eben nicht in einer verantwortlichen Zuständigkeit, wenn es um Sicherheit und Erziehung geht. So ein Beziehungskonstrukt führt in der Regel zu Problemen mit dem Hund in der Außenwelt. Oft fühlen Hundebesitzer sich unkomfortabel, wenn ich über diese sexuelle Projektion rede. Bei diesem Gedanken wird dann nervös gelacht und die Idee auch erstmal verworfen. In einer familiären Sozialstruktur zwischen Mensch und Hund ist es außerdem sehr oft so, dass der Hund -aus seiner Sicht uns Menschen gegenüber- notgedrungen eine Elternrolle erfüllt. Dass so eineBeziehungsform hoch problematische Konsequenzen nach sich ziehen kann, wird jedem klar sein.
Sozialstruktur zwischen Mensch und Hund?
Es gibt Strömungen in der Hundeerziehung, die bezweifeln, dass es überhaupt eine Sozialstruktur zwischen Mensch und Hund geben kann. Die Tatsache, dass Mensch und Hund zwei unterschiedliche Tierarten sind, hat diese Zweifel hervorgerufen. Meine Fragen hierzu sind: Können wir eine Beziehung zu unseren Hunden aufbauen, können wir mit ihnen kommunizieren, kann der Hund eine Bindung zum Menschen aufbauen? Wenn nur eine dieser Fragen mit „Ja“ beantwortet werden kann, wäre eine Sozialstruktur zwischen Mensch und Hund eine logische Konsequenz. Auch Prof Dr. Dr. Hans Hinrich Sambraus schildert in seinem Buch „Nutztierethologie“ den Prägungsprozess auf potenzielle Sozialpartner in derfrühen Jugendphase. Er zeigt in diesem Buch Fotos von auf Menschen geprägten Haustieren, die in der adulten Phase aufgrund ihrer Prägung dazu tendieren, den Menschen versuchen zu begatten, sogar den Menschen einer potenziellen Partnerin der eigenen Spezies vorziehen. Wenn also von sexueller Projektion zwischen Tier und Mensch die Rede ist, dann sicherlich auch von Sozialpartnerschaft und somit von Sozialstruktur.
Bindungstheorien auf den Hund übertragen
Der Kinderpsychiater John Bowlby und die Psychologin Mary Ainsworth entwickelten in den 60er-Jahren die sogenannte Bindungstheorie. Eine der Grundlagen für den Aufbau dieser Bindungstheorie war die durch den amerikanischen Psychologen und Verhaltensforscher Harlow durchgeführten Tierversuche zum Thema Mutter-Kind-Bindung. Er hat bereits in den 1959’er Jahren die Bedeutung des Behaviorismus in einem Sozialsystem widerlegt. Es ist nicht die Futtergabe, die zum Bindungsaufbau führt. Die Gewährleistung der Sicherheit ist laut seiner wissenschaftlichen Arbeit das Wichtigste. Tiere bevorzugen eine warme und schutzbietende Ersatzmutter gegenüber einer Ersatzmutter, die nur Futterlieferantin ist. Inder Hundeszene wird leider oft noch davon ausgegangen, dass so etwas wie Handfütterung eine gute Bindung zwischen Hund und Mensch kreiert. Das Gegenteil ist der Fall: Handfütterung gehört nicht zur guten Erziehung von Hunden! Obwohl die historischen Lerntheorien von Skinner (Lernen aufgrund von Belohnung) in Bezug auf das soziale Zusammenleben schon längst widerlegt sind, gibt es komischerweise in den meisten Hundeschulen noch immer eine wahre Renaissance dieser absolut veralteten Theorie. Diese Dressurformen stören den Aufbau einer sicheren Bindung zwischen Besitzer und Hund. So gibt es große pädagogische Unterschiede in Mensch-Hund-Beziehungen, die schwerwiegende Konsequenzen für die Persönlichkeitsentwicklung des Hundes haben. Ich übertrage die Bindungstheorien von Bolwby und Ainsworth bezogen auf Hunde zu ihren Bezugspersonen wie folgt:
Die sichere Bindung
Hat der Hund eine sichere Bindung zu seiner Bezugsperson, dann weiß der Hund, dass diese Person keine Gefahr für ihn darstellt, auch wenn sie klare Grenzen setzt. Im Gegenteil, diese Person ist sogar seine Lebensversicherung. Zudem ist diese Person eine
Bereicherung in seinem Leben, denn von ihr lernt der Hund, was er selbst gern lernen möchte, nämlich lebenspraktische Fertigkeiten. Seine Bezugsperson kann ihn begeistern und wird als geistesverwandt angesehen. Der Hund orientiert sich nicht nur an dieser Person, sondern identifiziert sich größtenteils mit ihr.
Die unsichere Bindung
Innerhalb dieser Bindungsform sieht der Hund seine Bezugsperson ebenfalls nicht als Gefahr. Seine Bezugsperson ist zwar vielleicht nett, aber aus Hundesicht naiv und unwissend, und sie ist keine Hilfe in brenzligen Situationen. Die Person dient sicherlich nicht als Vorbild. Der Hund lernt aus seiner Sicht für ihn sinnlose Handlungen. Obwohl der Hund Betreuung braucht, hat er oft das Gefühl, dass er seine Menschen betreuen muss. Der Mensch gibt ihm nicht ausreichend Sicherheit.
Die unsicher-vermeidende Bindung
Die unsicher-vermeidende Bindung ist eine Bindung, in der der Hund eher die Beziehung zum Menschen meidet. Der Hund fühlt sich nicht akzeptiert, sogar abgewiesen und versucht, durch Nichtauffallen Konflikte zu vermeiden. Oft hat der Hund das Gefühl, dass er immer für den Menschen Leistung erbringen muss. Leistung und Beurteilung stehen im Vordergrund. Ihm werden keine Verhaltensmöglichkeiten in Bezug auf seine eigenen Bedürfnisse beigebracht.
Die ambivalent-unsichere Bindung
Die ambivalent-unsichere Bindung entsteht dann, wenn der Hund im Bewusstsein leben muss, dass seine Bezugsperson Stimmungsschwankungen unterliegt, die zur Folge haben können, dass unvorhersehbar die Stimmung kippt und der Mensch ungehalten auf Situation oder Verhalten reagieren kann. Das sogenannte Binärsystem, also überschwängliches Belohnen und harte Strafe, ist hierfür ein Beispiel. So ist diese Person für den Hund nicht einzuschätzen, ja teilweise aus hündischer Perspektive sogar gefährlich. Oft lassen diese Hundebesitzer ziemlich egalitär viele Situationen einfach unkommentiert zu, solange der Hund nicht lästig ist. Wenn aber aus Sicht des Hundebesitzers das Maß voll ist, dann wird oft unverhältnismäßig hart bestraft; für den Hund aber ist das nicht kontextuell nachvollziehbar. „Man muss auch mal durchgreifen!“ ist so ein Satz, der zudem konsequent inkonsequenten Besitzer eines Hundes passen würde.
Die desorientierte Bindung
Die desorientierte Bindung ist die Konsequenz aus stark wechselnden Umgangsformen mit dem Hund. Einerseits wird der Hund verwöhnt und andererseits verpönt. Nicht nur diese beiden Aspekte führen zur Desorientierung, sondern auch ein modernes Phänomen in der Hundeerziehung, das ich „Seminar-Tourismus“ nenne. Damit meine ich, dass der Hundebesitzer oft von Monat zu Monat ein völlig neues Erziehungskonzept an seinem Hund ausprobiert und die Erziehung des Hundes somit zu einem modeabhängigen Phänomen degradiert. Ihr Hund hat logischerweise eine Beziehung zu Ihnen, aber sind Sie auch seine Bezugsperson? Bezieht er sich in seinem Verhalten auf Ihr Verhalten? Ist es so, dass er Ihr ruhiges Verhalten bei Hundebegegnungen nachahmt? Wenn er sich erschreckt, flüchtet er dann an Ihnen vorbei ins Haus, unter den Tisch oder ins Auto, oder kommt er schnellst möglich zu Ihnen, um Schutz zu suchen? Können Sie ihn festhalten und anfassen, und fühlt er sich dabei wohl, oder wehrt er sich gegen Ihr parentales Versorgungsverhalten? Findet er gemeinsame Aktivitäten mit Ihnen wichtig, oder ist er lieber alleine beschäftigt? Lässt er sich
von Ihnen auch auf Distanz beeinflussen, oder beachtet er Ihre Hinweise dann nicht mehr? Kann er abwarten, wenn Sie auf Distanz gehen, oder wird er unsicher oder ungeduldig und muss Ihnen unbedingt folgen? Bekommen Sie Freilauf von Ihrem Hund oder begrenzt er Ihre Möglichkeiten, in dem er Ihnen in die Quere kommt, wenn Sie herumlaufen, ja Sie vielleicht sogar korrigiert?
Wie kann ich meinem Hund eine sichere Bindung zu mir ermöglichen?
Damit Ihr Hund eine sichere Bindung zu Ihnen aufbauen kann, sollten Sie in seine Hundewelt eintauchen, also den Versuch starten, die Welt aus seiner Perspektive zu betrachten. Hunde suchen beispielsweise keinen Freilauf, sondern sind auf der Suche nach Verbindlichkeit, denn eine verantwortungsbewusste bedingungslose Betreuung von Seiten seiner Bezugsperson führt zu einem verstärkten Gefühl von Sicherheit. Der Hund hat dadurch seinen Kopf frei für die nützlichen positiven Aspekte des Alltags. Freiheit im Kopf ist bei Freilauf in der Regel nicht gegeben. Aus Freilauf resultiert beim Hund oft das Gefühl der Verantwortung für sich selbst und seinen Sozialpartner. Der Besitzer wird dadurch hinter den Fakten herlaufen und eher der reagierende korrigierende Part sein. Agieren statt reagieren kennzeichnet einen Besitzer der vorbeugt und initiiert und seine Verantwortung dem Hund gegenüber somit auch gerecht wird. Allem Anschein nach muss er selbständig sein. Wenn er das verinnerlicht hat, gilt für ihn logischerweise auch der letzte Teil des Wortes: Ständig! Stattdessen wäre es viel freundlicher gegenüber dem Hund, seine Selbstsicherheit zu stärken.
Sie können das tun, indem Sie eine Brückenfunktion zwischen Ihrem Hund und seinerUmwelt übernehmen. Hierfür schauen Sie sich gemeinsam mit dem Hund für ihn unbekannte Objekte an, die er vielleicht argwöhnt. Sie können die Objekte berühren oder bewegen. Sind Sie an einem dem Hund unbekannten Ort gehen Sie voran, um Ihr Vorbildverhalten zu zeigen. Wenn allerdings aus Hundesicht eine Gefahr von hinten kommt, schließen Sie die Reihe und schicken Ihren Hund eher nach vorne. Sie sehen und grüßen andere Personen, die Ihnen entgegen kommen. Damit zeigen Sie dem Hund, dass Sie aufmerksam die Gegend wahrnehmen und Sie durch Ihre Lebenserfahrung locker mit solchen Situationen umgehen können. So gehen Sie an jeder Ecke oder unüberschaubaren Kurve voraus, denn das kennzeichnet einen voraussehenden Blick. Sie kreieren nur sichere Hundekontakte, die zudem noch von Ihnen so moderiert werden, dass Sie Mobbing an Ihrem Hund vorbeugen. Aber genauso beugen Sie vor, dass Ihr Hund andere mobbt.
Wenn Sie unterwegs entgegenkommende Hunde als nicht koscher einschätzen, meiden Sie die Begegnung, indem Sie ausweichen oder sogar umdrehen. Hunde finden Mut zur Begegnung in solchen Situationen eher als Dummheit! Sie sollen verstehen, dass bei Hunden wie auch bei heranwachsenden Kindern deren Welt langsam größer wird. Damit steigt die Bewegungsfreiheit, umso wichtiger ist die Begrenzung, denn sie bietet Sicherheit und trägt zu Ruhe und zum Wohlbefinden bei. Sie können Ihrem Hund beispielsweise eine klare Grenze setzen, indem Sie einen mit holländischem Käse gefüllten Rohrknochen für sich in Anspruch nehmen und Ihrem Hund gegenüber tabuisieren. Sie sind dann aus seiner Sicht in der Lage, Ihre Ressourcen zu verteidigen. Ihr Hund könnte damit außerdem annehmen, dass Sie in der Lage sind, Anderen gegenüber auch gemeinsame Ressourcen zu verteidigen. Nur nettes Verhalten gegenüber seinem Hund ist unterm Strich nicht nett! Kreieren Sie für Ihren Hund eine gemeinsame, auch für den Hund ernst zu nehmende Ersatzjagd, denn so genießen Sie Quality-Time miteinander, und Ihr Hund lernt von Ihnen lebenspraktische Fertigkeiten. Er darf Hund sein mit Ihnen, und Sie werden zu Seelenverwandten in einer Interessengemeinschaft.
Der Hund erfährt die Erfüllung seiner Bedürfnisse bei gemeinsamen sinnvollen Aktivitäten mit einer für ihn bedeutungsvollen Person. Er verspürt eine intrinsische Motivation und braucht überhaupt kein Belohnungssystem! Er findet es höchstens schade, wenn die gemeinsame Ersatzjagd beendet ist. Nach der gemeinsamen Ersatzjagd und dem Essen wäre es gut längere Zeit mit dem Hund auf einer gemeinsamen Decke zu kuscheln und den Hund eine angenehme Körpermassage zu geben. Während der gemeinsamen Aktivitäten und auch während einer angenehmen Massage wird das Bindungshormon Oxytocin produziert. Dieses Hormon wirkt stressreduzierend, stimuliert eine gute Verarbeitung von neuen Informationen und Erfahrungen und sorgt für einen erholsamen Tiefschlaf, da er mit dem Botenstoff Serotonin, der körpereigenen Beruhigungsmedizin, korreliert.
© Jan Nijboer November 2017