ANNETT REINHOLD INTERVIEWTE JAN NIJBOER IM NOVEMBER 2018 FÜR DAS MAGZAIN “LOGBUCH54”:
Lieber Jan,
herzlichen Dank für deine Bereitschaft, mir und den Lesern ein paar Fragen zu beantworten.
Annett Reinhold:
“Es geht ja um das Thema „Persönlichkeit“. Jeder Hund ist eine eigene Persönlichkeit. Was macht Persönlichkeit für dich beim Hund aus? Welche Persönlichkeits-Typen kannst du da ausmachen? Und hat sich die Hundepersönlichkeit im Laufe der Zeit / Jahre geändert?”
Jan Nijboer:
“Persönlichkeit setzt sich zusammen aus genetischer Veranlagung, Temperament, Sensibilität, kombiniert mit Lebenserfahrung, den Einfluss und Vorbild des sozialen Umfelds und gebotene Entfaltungsmöglichkeiten. Die Genetik und das Temperament haben Einfluss darauf wie Erfahrungen wahrgenommen und verarbeitet werden. Einschneidende Erfahrungen, vor allem in der Jugendphase, können der Persönlichkeitsentwicklung eine andere Ausrichtung geben. Hundepersonen in Typen zu unterteilen ist immer unvollständig. Wenn ich es dann doch tun muss, würde ich wie folgt unterscheiden:
Der misstrauische Skeptiker: Negative Erfahrungen, sich nicht betreut fühlen, kombiniert mit Sensibilität und weniger Temperament, führen zu solchen Persönlichkeiten. Er meidet Konflikte und zieht sich eher zurück.
Der optimistische Opportunist: Positive Erfahrungen und das dadurch entwickelte Selbstvertrauen führen zu dieser selbständigen Persönlichkeit. Am liebsten macht dieser Typus alles allein. Wenn es für seine persönlichen Zwecke dienlich ist, arbeitet er auch vorübergehend zusammen.
Der Konkurrenz denkende Egoist: Negative Erfahrungen, sich nicht betreut fühlen, kombiniert mit stärkerem Temperament und geringerer Sensibilität, führen bei diesem Persönlichkeitstypus dazu, dass er für sich (und nur für sich) „kämpft“. Es gibt aus seiner Sicht keinen Anderen, der für ihn auftreten würde, also bleibt es an ihm dafür zu sorgen, dass die eigenen Bedürfnisse befriedigt werden.
Der vertrauensvolle Soziale: Positive Erfahrungen und sich sozial betreut fühlen sorgen für eine offene sichere Haltung Anderen gegenüber. Diese Persönlichkeit ist am meisten auf Kooperation ausgerichtet und schätzt die Beziehungen zu Anderen sehr. Ein echter Teamplayer.
Es gibt aber in der Regel einen Mix von Persönlichkeitsfaktoren bei jedem Individuum. Deswegen ist so eine Einteilung für mich zu absolut.
Im Prinzip haben sich für mich nicht die Persönlichkeitstypen als solches in den letzten Jahren geändert, sondern es gibt eine Verschiebung in der Häufigkeit von verschiedenen Typen. So sehe ich mehr und mehr Aspekte von misstrauischen Skeptikern und Konkurrenz denkenden Egoisten. Es gibt viel weniger optimistische Opportunisten. (Die früheren Bauernhofhunde hatten oft so eine Persönlichkeit.) Den vertrauensvollen Sozialen sieht man noch viel zu selten. Kulturbedingte Änderungen in Haltungsbedingungen und Erziehungsformen sowie Dressurformen haben meines Erachtens zu dieser Verschiebung geführt.”
Annett Reinhold:
“Ist Persönlichkeit beim Hund rasseabhängig?”
Jan Nijboer:
“Sowie gesagt, spielt die Genetik eine nicht unwichtige Rolle. So gibt es Hunderassen, die eine stärkere territoriale Veranlagung haben als andere. Dies kann Skepsis, alles was fremd ist, verstärken. Es kann auch zu verstärktem Konkurrenzdenken kommen und so zu mehr Ressourcen orientierten Rivalitätsverhalten. Andere haben genetisch bedingt weniger Akzent auf das Territoriale und auch auf das Soziale, sind viel mehr auf Jagd- und Sexualinstinkt orientiert. Das kann die Merkmale von einem optimistischen Opportunisten schon hervorrufen. Hunderassen mit geringem Territorialverhalten sind sozial gesehen eher kindlich Gebliebene (Infantilisiert). Sie haben die besten Chancen sich zu vertrauensvollen sozialen Hunden entwickeln zu können. Das Weiterzüchten von Rassehunden sollte um deren Wohlbefinden in unserer Gesellschaft, vor allem in diese Richtung weitergeführt werden, finde ich.”
Annett Reinhold:
“Können wir Menschen die Persönlichkeit beim Hund beeinflussen? Und wenn ja, wie?”
Jan Nijboer:
“Ja, das soziale Umfeld hat einen sehr starken Einfluss auf die Entwicklung der Persönlichkeit, solange die Persönlichkeit noch nicht gefestigt ist. Bei einer bereits gefestigten Persönlichkeit kann diese als solche nicht mehr so gut beeinflusst werden. Höchstens können sehr einschneidende Erfahrungen und sicherlich bestimmte Krankheiten oder auch bestimmte Medizin so eine gefestigte Persönlichkeit noch dramatisch ändern. Ein Hund mit einer bereits gefestigten Persönlichkeit kann aber im Optimalfall immer noch lernen. So kann er lernen, für ein paar Ausnahmepersonen, seine generelle Skepsis Anderen gegenüber fallen zu lassen. Der selbständige Opportunist kann die Erfahrung machen, dass Zusammenarbeit mit Ausnahmepersonen sich echt lohnt und sich so mehr und mehr an bestimmte Personen zu orientieren. Der Konkurrenzorientierte kann erfahren, dass es jemanden in seiner Gruppe gibt, der tatsächlich seine Bedürfnisse sieht und die Ressourcen sichert.
Die Persönlichkeit wird hierbei aber nicht echt geändert, denn würde der Hund auf sich allein gestellt sein, oder das soziale Umfeld wechseln, werden die gefestigten Persönlichkeitsmerkmale sofort wieder in den Vordergrund rücken. Persönlichkeitsentwicklung findet bei Hunden, wie bei Menschen in der juvenilen Phase statt. Wichtig hierbei ist echte Erziehung in Form von Vorbildverhalten, soziales Lernen und ein Verzicht auf Dressur. Die Sicherheit des Hundes zu gewährleisten, ist mindestens so wichtig, wie die Talente des Hundes in einem für ihn sinnvollen sozialen Regelspiel zu fördern. Den Hund betreuen im Sinne von Treue. Das letzte beinhaltet auch bedingungslose Akzeptanz und schließt so, die leider noch immer üblichen Belohnungssysteme aus. Erst dann, wenn es für ein Individuum in seinem sozialen Umfeld Vertrauenspersonen gibt, kann das Individuum Selbstvertrauen und somit Selbstsicherheit entwickeln. Leider wird in unserer Gesellschaft, oft durch Unwissen oder auch Bequemlichkeit, die Selbständigkeit für den Hund Not-wendig. Der positive Opportunist hat es mit viel Glück dann geschafft – er hört aber nicht ;D Der Skeptiker ist hierbei der Verlierer. Auch der konkurrenzdenkende Egoist ist durch solch eine nachlässige Erziehung und soziale Betreuung notgedrungen so geworden, was meist mit Überforderung einhergeht.”
Annett Reinhold:
“Gibt es deiner Meinung nach Persönlichkeitsstörungen beim Hund? Also angelehnt an die menschliche Psyche?”
Jan Nijboer:
“Wenn wir davon ausgehen können, dass die Persönlichkeit sich bei Hunden auf ähnliche Weise wie bei uns Menschen formt und vor allem auch das emotionale Empfinden nahezu identisch ist, ist die Annahme, dass Hunde ähnliche Persönlichkeitsstörungen wie Menschen entwickeln können, naheliegend. Hunde können jedenfalls paranoide Züge entwickeln, sowie auch schwere Depressionen. Ich glaube sogar, dass es auch Psychopathie bei Hunden gibt. Hunde, die ihr soziales Umfeld regelrecht terrorisieren, einen Mangel an Empathie und sozialer Kompetenz zeigen. Auch Angststörungen gibt es bei Hunden. Zurückgreifend auf meine Persönlichkeitseinteilung, könnte man sogar eine verstärkte Gefährdung in bestimmte Richtungen vermuten.”
Annett Reinhold:
“Es gibt ja den „Mythos“, dass sich Hund und Halter mit der Zeit angleichen. Glaubst du, dass dem so ist? Wenn ja, wer gleicht sich deiner Meinung nach mehr an bzw. in welchen Bereichen kann man das am besten beobachten?”
Jan Nijboer:
“Jein……., nicht wenn es um die Persönlichkeit geht. Das ist nämlich eine ganz persönliche Sache ;). Lernen mit der Persönlichkeit des anderen umzugehen, ist eher zu erwarten. Vor allem dann, wenn es für Beide wichtige gemeinsame Ziele gibt, wird das Verhalten auf einander abgestimmt und man sieht eine Synchronisierung des Verhaltens. Mensch und Hund leben dann in einer Interessengemeinschaft. Wer sich wem gegenüber am meisten angleicht, ist abhängig davon wer von Beiden über den anderen die Verantwortung in Bezug auf Sicherheit übernimmt. Trotzdem passt der Verantwortungsträger sich auch responsiv seinem Schützling an.
Viele Menschen wollen sich nicht an das Tier Hund anpassen müssen. Sie lieben wahrscheinlich die These, dass Hnde außerordentlich anpassungsfähig sind. („Wozu würde man sich dann als Besitzer noch Gedanken machen?“) Viele Hunde passen sich eher notgedrungen an ihr soziales Umfeld an. Statt über die Anpassungsfähigkeit des Hundes sollte viel mehr über die Abhängigkeit zu uns Menschen und somit unsere Verantwortung gesprochen werden. Der Hund kann nicht frei wählen in welcher sozialen Gruppe er leben möchte. Die Bedürfnisse des Hundes bleiben bei solch falschen Annahmen in der Regel auf der Strecke. Und wenn diese keine Beachtung bekommen, hat es oft verheerende Wirkung für seine Persönlichkeitsformung.”
Annett Reinhold:
“Ein geflügeltes Wort sagt: „Jeder bekommt den Hund, den er braucht (bzw. verdient). Kannst du dem zustimmen?”
Jan Nijboer:
“Schicksal, Vorbestimmung, Karma, das ist mir persönlich zu esoterisch. Das wäre dann mit Kindern fast ähnlich? Höchstens gibt es Menschen, die einen bestimmten Hund mit Problemen auswählen, weil sie z.B. jemanden oder sich selbst etwas beweisen möchten. Das sagt dann mehr über etwas anderes, was dieser Mensch braucht, aus. Oft werden Hunde für unsere emotionale psychische Verfassung gebraucht. Leider nur zu oft kommt dann ein Hund ins Haus, der das persönliche Leiden des Menschen noch verstärkt. Es passt dann eigentlich überhaupt nicht und sowohl Hund als auch Mensch leiden darunter. Es gibt sogar viele Menschen, die besser überhaupt keinen Hund hätten. Dann die Frage mal andersherum: Bekommt jeder Hund die Bezugsperson, die er braucht oder auch verdient? Den Satz; „Jeder bekommt den Hund, den er braucht oder verdient.“ als solches ist mir somit schon zu anthropozentrisch.
Eine anderer „platter“ Satz; „Zeig mir deinen Hund und ich sage wer du bist.“, welcher leider noch immer durch bestimmte Fachkollegen missbraucht wird, um vermutlich deren Kundschaft einzuschüchtern, ist meines Erachtens gleichzeitig der Beweis von Inkompetenz und mangelndem Fachwissen. Hunde haben keine parallele Biographie mit ihren Menschen. Die Faktoren „Vorgeschichte“ und „Genetik“ kann man nicht von der Hand weisen. Sei es, man ist ein (altmodischer) Behaviorist und glaubt das Verhalten nur Verhalten ist und nicht der Ausdruck von Emotionen, Bedürfnisse und Denken des Individuums betrifft.”
Vielen Dank für das Interview!
Und wir bedanken uns auch, dass wir das Interview hier veröffentlichen durften!
© Annett Reinhold / Jan Nijboer / November 2018